Neuanfang – So findest du den Weg

Höre zu, sieh nach links und rechts, probier dich aus und warum eine feste Tagesstruktur sowie ein gutes Zeitmanagement ab sofort wichtig für dich sind. Irene Sybertz erzählt in ihrem Buch “Spring, damit du fliegen kannst” ihre persönliche Geschichte mit Multiple Sklerose.

Der Phönix

Für mich das Sinnbild des Neuanfangs. Ich habe keine Lust, mein Leben von der MS bestimmen zu lassen. Ich will leben, ich will die Zukunft und halte nicht an der Vergangenheit fest.

Rise like a phoenix from the ashes of failures, reborn to conquer the world. (Sai Manoi)

Die Kunsttherapeutin sah mich dort sitzen. Ihr Therapieraum grenzte an den Freizeit-Treff. Sie kam, sah mir über die Schulter und fragte mich, warum ich ausgerechnet den Phönix malen würde. Ich wusste es nicht, aber mir fiel das Lied von Udo Lindenberg ein. Sie fragte mich, ob ich wüsste, welche Bedeutung dieses Wesen habe und ich solle das Bild unbedingt zu meiner ersten Therapiestunde mitbringen. Dort erzählte sie mir, der Phönix sei in manchen Kulturen ein Symbol für die Wiederauferstehung oder die Regeneration. Er ist sozusagen die Wiedergeburt aus der eigenen Asche, aus deren Feuer das Leben gereinigt wurde. Man könne es auch nüchtern übertragen in „trenne dich von Ballast und fokussiere dich auf die Zukunft“. Sie riet mir, alles, was mich belastet, in dieses Feuer zu legen. Was davon kann ich weitertragen, was kann weg? Ich müsse einen Zyklus abschließen und begreifen, dass nun ein neuer Lebensabschnitt anstehe. Dafür stehe der Phönix. Für die Veränderung alles bisher Dagewesenen.

Zu guter Letzt legte sie mir noch ein gefaltetes Zettelchen hin, das zuvor an der Pinnwand des Therapieraumes hing:

Wenn etwas Altes seine Kraft verliert, dann ist immer schon etwas Neues, Gutes auf dem weg auch wenn wir es oft noch nicht sehen können.
Leb Dein leben endlich wirklich, nicht nur Deinen Wunsch danach. (Eva Maria Zurhorst)

Wenn eine harte Wahrheit ans Licht kommt, tut das weh. Man versteckt sie ja nicht grundlos. Hier saß ich nun; dicke Tränen liefen mir über mein Gesicht und wollten gar nicht mehr aufhören. Der Leistungsdruck, den mir meine leibliche Mutter anerzogen hatte und der sich als roter Faden durch mein ganzes bisheriges Leben zog. Die Verantwortung, die ich meinte zu haben; Entscheidungen, von denen ich dachte, dass ich sie treffen müsste. Den Druck, eine Ehe aufrecht zu erhalten, die es schon lange nicht mehr gab. Funktionieren und arbeiten zu müssen, da Horst und ich vor kurzer Zeit erst das ehemalige landwirtschaftliche Anwesen gekauft hatten. Alles das war der Ballast auf meiner Seele. Und ich persönlich bin überzeugt davon, dass ich diese Krankheit bekommen musste, um mich selbst zu erkennen. Das ist nichts wissenschaftlich Belegtes und jeder Neurologe würde an dieser Stelle wahrscheinlich die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. Aber obwohl ich ein sehr realistischer Mensch bin, glaube ich mittlerweile, dass es Dinge zwischen Himmel und Erde gibt, die sich nicht erklären lassen. Ich bin unglaublich dankbar für diese Kunsttherapie, der ich vorher nie Bedeutung beigemessen habe.

Aber jetzt wieder zu etwas Handfesterem. Der Arbeitstherapie. Während die Arbeitstherapie in meiner ersten AHB aus dem Flechten von Weidenkörbchen und dem Anfertigen von Kratzbildchen bestand, habe ich in dieser Klinik in Hilchenbach gelernt, was eine Arbeitstherapie wirklich ist. Ich dachte erst, dass ich das mit Leichtigkeit absolvieren würde. Denn ich arbeitete bei einer recht großen Tageszeitung, war Stress gewohnt und mein Ehrgeiz war geweckt. Aber ich wurde ganz schnell ganz schön kleinlaut. Ich wurde in ein Büro gesteckt, in dem mehrere Personen arbeiteten. Ich bekam Aufgaben, die ich am PC lösen musste. Bis dahin kein Problem. Dann kamen aber ständig Leute ins Büro, die mir Fragen stellten, zusätzliche Aufgaben gaben und mich nach Dingen fragten, die ich am PC erledigen sollte. Das wurde auf einmal zur Herausforderung, denn meine kognitiven Fähigkeiten waren nicht mehr das, was sie mal waren. Es fiel mir schwer, mich auf mehr als eine Sache zu konzentrieren, und selbst das war anstrengend. Aber nun die geteilte Aufmerksamkeit? Das, was bei meiner Arbeit Alltag war? Viele Menschen in Büro, immer wieder Unterbrechungen, Termine, die einem im Nacken saßen, denn eine Verzögerung des Zeitungsdrucks kostete letztendlich Tausende von Euros und würde sich durch die ganze weitere Produktion der einzelnen Ausgaben hindurchziehen! Zum Glück gibt es Möglichkeiten, geteilte Aufmerksamkeit zu trainieren, aber mir war klar, dass das zu einem gravierenden Wendepunkt werden würde, wenn nicht sogar das Aus.

Während dieser Therapiestunden wurde auch meine Arbeit analysiert. Was musste ich wie oft, wie lange machen? War es eine körperlich oder geistig anstrengende Arbeit? Stressfaktoren? Arbeitsanfall? Überstunden? Kollegen und Vorgesetzte? Mobbing? Glücklicherweise hatte ich bis zu meiner MS keine Probleme mit Mobbing. Die kamen erst nach Bekanntwerden meiner Diagnose. Und das von durchaus unerwarteter Stelle. Es gibt Menschen in der Arbeitswelt, die bezeichnen ihre Mitarbeiter als „Kapazitätsköpfe“. Kein Witz. Und mein Kapazitätskopf war nicht mehr zuverlässig. Keiner, weder meine Ärzte noch ich, konnte wissen, ob, wann und wie lange ich wieder ausfallen würde. Das kam nicht gut an. In der Arbeitstherapie hat man mir aber beigebracht, „nein“ zu sagen, wenn auf den ohnehin schon übergroßen Stapel Arbeit noch etwas draufgelegt werden sollte. Ich lernte, dass ich mich nicht um Dinge kümmern muss, die nicht zu meiner Gehaltsklasse gehören und dass mit dem Verlassen des Betriebsgeländes Feierabend ist. Aber diese, meine neue Einstellung zur Arbeit kam gar nicht gut an. Man war mein neues Ich nicht gewohnt.

Praxis-Tipp

Solltest du im Arbeitsleben stehen und eine AHB/Reha machen, dann würde ich dir empfehlen, eine Klinik zu suchen, die echte Arbeitstherapien anbietet. Nur so kannst du wissen, wo du im Alltag wirklich stehst mit deiner Leistungsfähigkeit und ob du vielleicht darüber nachdenken musst, etwas zu verändern.

Ich könnte nun noch über meine weiteren Therapien wie Physio-, Ergo- oder neurologische Psychotherapien berichten. Aber letzten Endes werden die genau auf dich und deine Symptome zugeschnitten, und das, was mir geholfen hat, kann dir unter Umständen schaden. MS ist die Krankheit der 1000 Gesichter und du und dein Körper seid einzigartig. Hier bleibt dir nichts anderes übrig, als den Therapeuten zu vertrauen. Die sind top ausgebildet, haben oftmals Zusatzausbildungen für die unterschiedlichsten neurologischen Erkrankungen und stehen im engen Kontakt mit den Ärzten. Therapeuten und Ärzte entscheiden gemeinsam, welche Therapien für dich wichtig sind. Aber sie sind auch auf deine Mithilfe angewiesen und vor allem auf deine Kommunikation. Sag, was dir guttut, was dir hilft, was dir vielleicht Schmerzen bereitet, oder was dir ganz einfach nichts bringt. Nur gemeinsam könnt ihr lernen, deinen neuen Körper zu verstehen und ihn fördern.

Ich hatte in meiner bisherigen MS-Laufzeit insgesamt sechs Schübe in den ersten sechs Jahren. Seit weiteren sechs Jahren bin ich ohne bemerkbaren Schub. Meine MS ist in den schleichenden Verlauf übergegangen. Trotzdem ist sie noch aktiv, was die regelmäßigen MRTs in Form von neuen Vernarbungen im Gehirn und Rückenmark zeigen. Fünf von meinen AHBs habe ich in der gleichen Klinik im Siegerland geleistet. Ich hatte nicht den Drang nach dem Ausprobieren neuer Kliniken, was rein theoretisch möglich wäre. Für mich war die Möglichkeit des Vergleichs wichtig. Ich wusste, die Therapien halfen mir jedes Mal und dadurch, dass die Therapeuten mich auch kannten, konnte sich jeder ein echtes Bild über meine Leistungsverluste nach den jeweiligen Schüben machen, und mit den Berichten aus den Vorjahren vergleichen. Das betraf sowohl die Bereiche Körper, Seele und Arbeit; als auch die Bewältigung des Alltags.

Aber wie findet man die für sich richtige Reha-Klinik bzw. Klinik für die AHB? Bei deinem ersten Schub mit deinem ersten Krankenhausaufenthalt solltest du auf den Rat deiner Ärzte hören. Es muss nicht jedes Mal zu einem Reinfall wie bei mir führen. Obwohl es das eigentlich gar nicht war, denn diese erste AHB hat meine Sichtweise aufs Leben positiv verändert…

Buchtipp: Spring, damit du fliegen willst. Von Irene Sybertz. www.minervastore.de

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