Auf einmal ging ich wie durch Sand, Teil 2
“Die bösen Worte Multiple Sklerose rückten immer näher in mein Bewusstsein und mein behandelnder Arzt versuchte mich auf die Möglichkeit vorzubereiten. Denn meine Symptome wurden immer ausgeprägter.” Irene Sybertz erzählt in ihrem Buch “Spring, damit du fliegen kannst” ihre persönliche Geschichte mit Multiple Sklerose.
Donnerstag, 19. November
Horst fuhr mich morgens zur Aufnahme in die neurologische Klinik, die nur rund 30 Minuten von unserem Wohnort entfernt war und einen exzellenten Ruf in Bezug auf die Behandlung neurologischer Erkrankungen genoss. (Das tut sie übrigens noch heute). Ein Flachdach-Bau aus den späten 60er Jahren. Und so war auch die Innenausstattung. 15 Zweibettzimmer auf „meiner“ Station, Toiletten und Duschen auf dem Flur. Sowohl für die Damen als auch die Herren jeweils ein Toilettenraum mit drei Sitzplätzen, pastellgelben Fliesen mit Pril-Blumen-Aufklebern über dem Waschbecken; der jeweilige große Duschraum verfügte über je drei separate Duschzellen. Ich beschloss, morgens schon 30 Minuten vor dem offiziellen Wecken durch die Krankenschwestern zu duschen, um dort wenigstens ein bisschen Privatsphäre zu haben. Welch großartiges Gefühl es ist, wenn du unter Inkontinenz leidest, eigentlich schon gestern zur Toilette musst, dann aber alle drei besetzt sind, brauche ich dir nicht zu erzählen. Glücklicherweise gibt es für solche Fälle Hilfsmittel in Form von Slipeinlagen. Aber die Zimmer waren okay; Krankenhauszimmer eben. Der Blick hinaus war schön, denn er ging über den krankenhauseigenen Park und in angrenzende Felder und Wiesen. Ein Blick, den ich schätzen lernte. Aber viel wichtiger als der äußere Rahmen war natürlich das Pflegepersonal sowie die Ärzte. Ehrlich gesagt störte mich das ganze fünf Jahre lang nicht. Bis auf die Sache mit den Toiletten. Denn ich war ab 2009 bis einschließlich 2013 jährlich mindestens einmal dort, weil ich entsprechende, sogenannte MS-Schübe hatte. Mehr oder weniger ausgeprägt. Die Klinik wurde neu gebaut und den „Luxus“ der neuen Klinik durfte ich dann mit den bekannten Gesichtern des Pflegepersonals und der Ärzte genießen.
Somit stand der Fahrplan und Horst verabschiedete sich von mir.
Ich packte meine Tasche aus und wartete, auf meinem Bett sitzend, darauf, dass es losging.
Und wie es losging. Ich hatte auf einmal eine Nadel nach der anderen im Arm. Blutabnahmen. Eines werde ich nie verstehen. Wenn doch die Ärzte wissen, dass diverse Kanülen mit dem Blut eines Patienten an verschiedene Stellen geschickt werden müssen, um sie auszuwerten. Warum kann man dann nicht einmal, von mir aus fünf, sechs, sieben oder acht Kanülen Blut ziehen und die dann entsprechend verteilen? Warum immer wieder neu stechen? Vor allem, wenn die Patientin sagt, dass sie schlechte Venen von Haus aus hat? Ich konnte regelrecht zusehen, wie sich meine Armbeugen verfärbten. In den Folgetagen trug ich sowohl mein khakifarbenes Lieblingsshirt als auch mein lilafarbenes Shirt. Die waren perfekt farblich auf die Blutergüsse in meinen Armbeugen abgestimmt. Ein Teil der Blutergebnisse kam noch vor dem Wochenende. Mehr oder weniger ohne Befund.
Das CT zeigte, dass da was im Gehirn war, was da nicht hingehörte. Es könnte zu einem Schlaganfall gehören oder aber auch eben zu dem Bild einer Multiplen Sklerose. Somit wurde ein MRT gleich für den Montagmorgen angesetzt. Dazu würde ich mit einem Taxi von der Klinik in Meisenheim (Kreis Bad Kreuznach) zu einer Praxis für Radiologie nach Idar-Oberstein gefahren werden. Die Ultraschall-Untersuchung der Halsschlagader und das EKG ergaben, dass es sich, aller Voraussicht nach, nicht um einen Schlaganfall handeln würde. Die bösen Worte Multiple Sklerose rückten immer näher in mein Bewusstsein und mein behandelnder Arzt versuchte mich auf die Möglichkeit vorzubereiten. Denn meine Symptome wurden immer ausgeprägter.
Von Gehen war nicht mehr die Rede; ich torkelte regelrecht.
Ich hatte ständig das Gefühl zu fallen, weil mir schwindelig war, und die Toilette mutierte zu meiner besten Freundin. Noch am gleichen Tag das EEG und auch die Lumbalpunktion. Danach musste ich zwei Stunden am Stück möglichst bewegungslos auf dem Bauch liegen, um das Nachfließen von Gehirnwasser, starke Kopfschmerzen oder auch Schmerzen an der Einstichstelle zu vermeiden. Aber all die Untersuchungen bis hierher wirst du auch kennen.
Am Wochenende passierte das, was eigentlich immer in Krankenhäusern passiert: nichts; bis auf das kategorische Blutdruckmessen. Das Pflegepersonal war lieb und nahm sich auch das ein oder andere Mal Zeit für mich. Sie sahen, welche Angst ich hatte. Das Essen war gut. Ich war noch allein auf dem Zimmer. Eine Bettnachbarin wurde mir für den kommenden Montag angekündigt. Ich versuchte, mich mit Lesen abzulenken, dem Blick in den schönen Park und mit Musikhören. Horst ließ sich das ganze Wochenende über nicht blicken. Wir telefonierten nur. Aber ich vermisste meine Polly. Ich war allein mit meiner Angst und den Millionen Gedanken und Szenarien, die mir durch den Kopf schossen.
Montag, 23. November
Montagmorgen dann der Tag, der mein ganzes Leben verändern sollte. Ich wurde zu meinem MRT-Termin gefahren; dem ersten von mittlerweile rund 25 im Laufe von knapp 14 Jahren. Nach dem MRT gab es eine kurze Besprechung mit dem Radiologen. Und der hatte eine Art, mir die Dinge mitzuteilen, wie eine Axt im Wald.*
Mir wurden die Bilder in die Hand gedrückt, die ich meinem Arzt im Krankenhaus übergeben solle; der Bericht würde umgehend gefaxt werden. Ich weiß gar nicht mehr, wie ich zum Taxi kam. Während der rund 30 Minuten dauernden Rückfahrt brach alles aus mir heraus. Ein Meer von Tränen, wie ich es nur anlässlich des Todes meines Vaters kannte. Gedanklich verabschiedete ich mich von meinem Leben und ja, ich formulierte im Kopf bereits mein Testament. Der arme Taxifahrer wusste gar nicht, wie er mich beruhigen sollte. An der Klinik angekommen brachte er mich, tränenüberströmt, auf meine Station. Schwester Helga sah mich und nahm mich wortlos in den Arm und hielt mich fest. Sie brachte mich auf mein Zimmer, in dem mittlerweile meine Bettnachbarin angekommen war. Eine liebe, ältere Dame, Erika. Schlaganfall. Wir verstanden uns auf Anhieb. Sie ließ mir die Ruhe, zu mir zu kommen und das, was mich ganz offensichtlich so bedrückte, erstmal zu verarbeiten.
Ich betete, dass es doch bitte nur Multiple Sklerose wäre.
Ich musste an meinen lieben Kollegen Harald denken, der wenige Jahre zuvor seinem Gehirntumor, nach mehreren Chemotherapien, erlegen war. Zwei Stunden später ließ sich mein behandelnder Arzt, samt Entourage, blicken. Mit meiner Patientenakte aufgeschlagen in der Hand sagte er: “Es ist MS. Wie wir es vermutet
haben.”
Ich war wie erschlagen; aber irgendwie froh, dass es nur die Multiple Sklerose war, von der ich nichts wusste, außer, dass diese Krankheit mich nicht zwangsläufig in den Rollstuhl bringen würde. Aber ich ahnte, dass da etwas auf mich zu rollte, dass ich noch nicht benennen konnte. Nun nahm mich Erika in den Arm und sagte mir, dass sie für mich da sei, wenn ich so weit sei. Keine zehn Minuten später bekam ich meine erste Kortison-Infusion. Ich vermisste Polly. Ich wollte mein Gesicht nur noch in ihr Fell drücken und ihre Wärme spüren. Horst wusste zu dem Zeitpunkt noch nichts. Er hatte sich für den späten Nachmittag angekündigt. Ich war froh darüber, denn zu diesem Zeitpunkt wollte ich niemanden sehen und hören.
Die folgenden fünf Tage danach bekam ich also jeweils 1000 mg Kortison intravenös.
Und dieses Teufelszeug zeigte schon in kürzester Zeit Wirkung. Meine Sprache verbesserte sich, ebenso mein Gleichgewichtsgefühl, meine Harninkontinenz. Ebenso konnte ich so langsam einen Stift halten, ein paar Worte schreiben oder besser gesagt „besser kritzeln“. Mein torkelnder Gang wurde besser – aber bis heute nie wieder richtig gut. Mein rechter Fuß hat bis heute noch eine Fußhebeschwäche und eine Stellung, wie man sie bei Rennrodlern während der Fahrt im Eiskanal beobachten kann. In Ruheposition zeigt er nach innen und nach unten. Aber auch hierfür gibt es eine Möglichkeit, das zu ändern. Doch dazu später mehr. Die Lähmung meiner rechten Gesichtshälfte hat sich bis heute, fast 14 Jahre später, ebenfalls nur geringfügig zurückgebildet. Sie „hängt“ ein bisschen, wie man es zum Teil bei Schlaganfallpatienten beobachten kann.
Zum Glück vertrug ich diese Mengen an Kortison gut. Die einzigen Nebenwirkungen für mich: Schon nach 10 Minuten Infusion hatte ich den ganzen Tag lang einen metallischen Geschmack im Mund. Von einer angehenden Lebensmitteltechnikerin habe ich vor kurzem erfahren, dass an einer Art Kaugummi „von metallisch nach süß“ gearbeitet wird. Denn Krebspatienten, die eine Chemotherapie erhalten, kennen diesen metallischen Geschmack im Mund ebenfalls. Dieses neuartige Kaugummi verwandelt dann diesen Geschmack von metallisch zum Beispiel in Geschmack nach Erdbeeren. Ich hätte mir dieses Kaugummi schon vor Jahren gewünscht. Aber wer weiß, wann oder ob überhaupt dieses Kaugummi auf den Markt kommt. Aus meiner Sicht gesehen auf jeden Fall mehr als wünschenswert.
Eine weitere Nebenwirkung für mich war, dass ich mich wie ein aufgekratzter Hamster fühlte, der den Ausgang aus seinem Hamsterrad nicht findet. Einerseits hellwach und voller Energie, aber gleichzeitig erledigt. In Kombination mit den Schlafstörungen, die diese Mengen Kortison sowieso schon hervorrufen, der Supergau. Und dabei wollte ich doch nichts mehr als schlafen, vergessen und beim Aufwachen feststellen, dass es sich doch nur um einen Albtraum handelte.
Aber dem war leider nicht so. Nach einer Woche machte sich in meinem Gesicht, meinen Schultern und auf meinem Rücken die Kortison-Akne breit (die sogenannte Steroidakne), in Form von unzähligen entzündeten und eitrigen Knötchen. Glaube mir, hier hilft nichts, außer das auszusitzen und zu warten, bis sich das Kortison in deinem Körper wieder abbaut. Zum Glück hatte ich keine Wassereinlagerungen oder verstärkten Appetit, wie es bei der Kortison-Einnahme oft der Fall ist.
Praxis-Tipp: Injektion oder Tabletten?
Mein späterer Neurologe wollte mal einen akuten, leichten Schub bei mir mit höher dosierten Kortison-Tabletten behandeln (400 mg pro Tag), um mir einen Krankenhaus-Aufenthalt und die 1000 mg-Infusionen zu ersparen. (Ich habe mal gelesen, dass die Jahreshöchstdosis Kortison für einen Menschen bei 11.000 mg liegt. Bei einer typischen Kortison-Stoßtherapie erhältst du schon fast die Hälfte in fünf Tagen; wenn du Pech hast, wie ich zum Beispiel bei einigen Schüben, erhältst du zusätzlich drei Tage lang Infusionen mit jeweils 2000 mg Kortison. Also die Jahresdosis von 11.000 mg in acht Tagen. Das muss dein Körper erstmal verkraften. Aber es ist im Fall eines akuten Schubes das Mittel und die Therapie der ersten Wahl, damit unser fehlgeleitetes Immunsystem nicht noch mehr Schaden in unserem Körper anrichtet.) Mein Gesicht wurde immer runder, der Appetit immer größer; ebenso meine Erdanziehungskraft – so zeigte es zumindest meine Waage. Ich persönlich wähle seitdem, wenn es erforderlich ist, die intravenöse Kortison-Gabe.
Während meiner Behandlung im Krankenhaus erhielt ich mehrfach Besuch vom Krankenhausseelsorger. Er versuchte, mich aufzurichten und mir Mut zu machen. Ich war aber zu diesem Zeitpunkt noch nicht bereit, meine Diagnose zu akzeptieren. Irgendwo musste ein Fehler sein. Ein Missverständnis vielleicht? Es konnte nicht sein, dass ich auf einmal unheilbar krank war! Doch nicht ich! Aber eine MS-Schwester nahm sich meiner noch im Krankenhaus an und klärte mich auf, was die MS überhaupt ist, wie man sie behandelt, wie man mit ihr lebt. Der wichtigste Satz, der in diesen Gesprächen bei mir hängen geblieben ist, lautet:
Alles kann, nichts muss! & Ich lebe mit der MS, nicht die MS lebt mich.
Praxis-Tipp: Du möchtest wissen, was eine „MS-Schwester“ ist?
MS-Schwestern gehören zum medizinischen Fachpersonal. Sie sind Krankenschwestern bzw. Krankenpfleger, die mindestens zwei Jahre in einer neurologischen Arztpraxis oder auf einer neurologischen Station in einem Krankenhaus gearbeitet haben. Sie haben Aus- und Fortbildungen über die DMSG (Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft) in Sachen MS erhalten und sind somit ein, wenn nicht sogar das, Bindeglied zwischen Menschen mit MS und dem behandelnden Arzt. Sie beantworten dir Fragen, von denen du nicht weißt, dass du sie überhaupt hast und für deren Beantwortung in der Praxis deines Neurologen einfach zu wenig Zeit ist. Sie kommen (für dich kostenlos) zu dir ins Haus. Sie klären dich über die Behandlungsmöglichkeiten auf, erklären dir die Medikamente und deren möglichen Nebenwirkungen. Sie geben dir auch Tipps für deinen Alltag und oftmals nehmen sie dich auch einfach nur in den Arm und hören dir zu, wenn du es brauchst. MS-Schwestern zeigen dir außerdem, wie du dir dein MS-Medikament selbst injizierst, wenn dein Neurologe bzw. dein behandelnder Arzt im Krankenhaus ein entsprechendes verschrieben bzw. angeordnet hat. Sie nehmen dir die Angst vor diesen Injektionen und erklären dir den Umgang mit dem entsprechenden Medikament, z.B. ob es lückenlos kühl gelagert werden muss.
Ich rate dir, für den Anfang, unbedingt Kontakt zu einer MS-Schwester zu suchen.
Meistens wissen schon die behandelnden Ärzte im Krankenhaus, wer Ansprechpartner für dich ist, oder dein behandelnder Neurologe. Ganz besonders möchte ich dir die DMSG (bzw. den Landesverband für deine Region) ans Herz legen. In meinem Fall war und ist das die DMSG Rheinland-Pfalz mit Sitz in Mainz. Ich bekomme kein Geld dafür, wenn ich diese Gesellschaft erwähne. Ich tue das, weil ich persönlich sehr viel Hilfe und Aufklärung in Sachen MS von meinen „Mainzern“ erhalten habe. Die Menschen, die dort arbeiten, sind kompetente Partner, auf die du dich verlassen kannst. Du ahnst (noch) nicht, wie viel Müll in Sachen MS im Internet zu finden ist. Schalte deinen gesunden Menschenverstand ein. Wenn dir jemand sagt, dass Globuli, den Mond anheulen oder kalt duschen die MS heilen können, dann frage dich, warum diese Personen, die diese „Therapien“ für wirksam erklären, noch nicht den Nobelpreis für Medizin erhalten haben. Lass dich nicht ins Bockshorn jagen. MS ist definitiv nicht heilbar! Aber diese Krankheit ist behandelbar; insbesondere was Symptome und Begleiterkrankungen anbelangt.
In den fünf Tagen meiner Behandlung passierte sonst nichts weiter.
Ich bekam schon Physiotherapie und Ergotherapie, da die Feinmotorik meiner rechten Hand gelitten hatte. Ebenso kümmerte sich ein Logopäde um mich, der mich sprachlich, so gut es ging, wieder halbwegs fit machte. In der Zwischenzeit wurde ich darüber informiert, dass ich nur wenige Tage nach meiner Entlassung eine Anschlussheilbehandlung in einer Reha-Klinik für neurologische Erkrankungen in Bad Camberg antreten sollte. Ich fand, dass das eine gute Idee war, um zu mir zu kommen, um all das Verstehen zu lernen und ich willigte ein. Ich hatte kein schlechtes Gewissen, Horst nun für die nächsten Wochen allein zu lassen und auch nicht meiner Firma gegenüber. Jetzt war ich mal dran. Nur Polly – die würde ich wirklich vermissen.
Dezember 2009
Ich wurde aus der Klinik entlassen. In meinem abschließenden Arztbericht standen die Sätze:
„Eindeutiger Befund eines chronisch-entzündlichen ZNS-Prozesses. Diagnose: Encephalomyelitis Disseminata (ED), schubförmiger Verlauf“
Ich war auf einmal krank, unheilbar krank, chronisch krank. Ich würde den Rest meines Lebens mehr oder weniger regelmäßig mit Ärzten und Medikamenten zu tun haben. Mein Leben, so, wie ich es kannte bzw. so, wie ich es gelebt habe, war vorbei.
Heute sage ich: Das ist auch gut so! Okay, ich trauere einigen Dingen hinterher, was zum Beispiel diverse Körperfunktionen angeht. Aber ich habe, besonders in den vergangenen vier Jahren, so viel Positives erfahren. So viel gelernt, vor allem aber mich selbst kennengelernt. Ich mache nun wieder Dinge, die ich die letzten 20 Jahre nicht mehr gemacht habe, wie zum Beispiel nachmittags in der Stadt Kaffee trinken gehen oder ins Schwimmbad. Ich male, ich lese, ich höre Musik, ich sehe mir meine aktuelle Lieblingsserie an, gehe ins Kino, wann ich will und solange ich will. Und weißt du, was das Beste daran ist? Ich mache all das, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben, weil andere Dinge möglicherweise wichtiger sind, wie zum Beispiel, dass ich eigentlich die Ablage in meiner kleinen Büroecke machen müsste.
Von damals bis heute
Im Laufe meiner bisher nun knapp 14 Jahre andauernden MS-Historie habe ich mehrere Medikamente durch. Das Medikament der knapp vierjährigen Basistherapie mit Interferon-beta-1a, was ich anfangs einmal wöchentlich in meinen Oberschenkelmuskel, bzw. später ein anderes Medikament dieser Gruppe alle zwei Tage subkutan an den verschiedensten Stellen meines Körpers spritzen musste.
Da ich trotz dieser Medikamente ein bis zwei Schübe jährlich hatte, wurde ich dann mit einem Medikament (monoklonaler Antikörper) aus der Eskalationstherapie behandelt, was vierwöchentlich als Infusion verabreicht wird. Nach acht Jahren dieser Therapie haben meine Venen nicht mehr mitgespielt; die Flüssigkeit der Infusion lief nur noch in mein Gewebe, was sehr schmerzhaft ist. Trotz allem war diese Zeit eine ruhige, was Schübe betraf. Es waren nur zwei. Dafür war der Letzte der Schlimmste (dazu an anderer Stelle mehr).
Alle von mir genannten Medikamente sind für den schubförmigen Verlauf der MS. Seit sechs Jahren hatte ich keinen offen aufgetretenen Schub mehr. Trotzdem ist die Krankheit aktiv, was sich in einer schleichenden Verschlechterung mancher meiner Körperfunktionen bemerkbar macht. Meine MS ist in den sogenannten „aktiven sekundär progredienten (schleichenden) Verlauf“ übergegangen. Seit einem guten Jahr hat mein Neurologe mich auf ein neues Medikament in Tablettenform (Sphingosin-1-Phosphat-Rezeptor-Modulator) eingestellt. Am liebsten würde ich ihn jedes Mal umarmen, wenn ich ihn sehe, denn es geht mir derzeit gut unter dieser Behandlung und er hat mir Freiheit gegeben. Freiheit von vierwöchentlichen Infusionen und somit Freiheit von Schmerzen, die damit zum Schluss verbunden waren.
Trotz allem können alle auf dem Markt befindlichen Medikamente für die schubförmige oder schleichende MS, diese nicht heilen.
Sie können aber den Krankheitsverlauf verlangsamen, für eine schubärmere Zeit sorgen und somit eine mögliche (Verschlechterung einer) Behinderung vermeiden. Auch wenn mir meine MS Probleme im Alltag bereitet durch eingeschränkte Körperfunktionen, durch Begleiterkrankungen wie das Restless-Legs-Syndrom, Harn-Inkontinenz, Fatigue, Doppelbilder, mehr oder minder ausgeprägte Spastiken und auch den ein oder anderen Sturz, weil mein rechtes Bein sich gerne mal unangemeldet verabschiedet, und im Sommer durch das lästige Uhthoff-Phänomen: Ich habe mich mit meinem Körper arrangiert und Frieden geschlossen mit den zwei Buchstaben. Ich habe lange genug dagegen angekämpft, viele Tränen vergossen, mich zurückgezogen, niemanden an mich herangelassen. Aber letztendlich musste ich feststellen, dass ich das Wichtigste verpasse: das bzw. mein Leben.

Buchtipp: Spring, damit du fliegen willst. Von Irene Sybertz.