Du bist nicht erwünscht, nicht gewollt und schon gar nicht habe ich dich erbeten …
Mein Leben mit MS:
Hallo und herzlich willkommen bei MS-Voices! Ich bin Irene, und hier dreht sich alles um das Leben mit Multipler Sklerose (MS). Als ich vor einigen Jahren die Diagnose erhielt, hat sich mein Alltag auf den Kopf gestellt – und ich war plötzlich mit unzähligen Fragen, Ängsten und Herausforderungen konfrontiert. In diesem Blog möchte ich meine persönlichen Erfahrungen mit euch teilen und Menschen eine Stimme geben, die unter MS leiden. Wie ist das wirklich, mit MS zu leben? Wie verändert es den Alltag, die Beziehungen und die Zukunftsplanung? Hier gibt es ehrliche Einblicke, praktische Tipps und die ein oder andere Anekdote aus meinem Leben – direkt aus dem Herzen einer Betroffenen.
Und doch bist du Teil meines Lebens:
Ungefähr 5586 Tage.
Ungefähr 134064 Stunden.
Ungefähr 8043840 Minuten.
Ungefähr 482630400 Sekunden.
Du hast sogar einen Namen, obwohl du für mich kein Gesicht hast und gleichzeitig doch so viele. Dein Name ist „Encephalomyelitis disseminata“. Dein Name ist schon so bekloppt, dass du deswegen du landläufig Multiple Sklerose heißt, oder auch kurz: MS.
Und du bist ein echter Störenfried.
Du hast mir meine Pläne versaut, denn ich wollte eigentlich noch die Ausbildung zur Betriebswirtin machen, nachdem ich die Prüfung zur Wirtschaftsfachwirtin nur fünf Monate, bevor du mit Ach und Krach in mein Leben geknallt bist, absolviert habe. Die Betriebswirtin wäre das Sahnehäubchen gewesen. Ich wollte Karriere machen; zeigen, wer ich bin und was ich kann. Du hast mir das versaut. Du hast mich sogar so weit getrieben, dass ich, nur fünf Jahre nach der Diagnose, in die volle Erwerbsminderungsrente gehen musste. Das nehme ich dir wirklich übel.
Du hast keine Ahnung, wie es ist, Existenzängste zu haben. Du hast keine Ahnung, wie es ist, wenn in meiner Seele auf einmal alles dunkel ist. Du hast keine Ahnung, wie es ist, wenn ich meinen Körper nicht mehr kontrollieren kann. Du raubst mir Kraft und Energie. Du hast mir meine Spontanität genommen. Du hast keine Ahnung, wie es ist, wenn ich nicht mehr weiter weiß.
Warum machst du es mir so schwer? Hast du nichts anderes zu tun? Kriech doch wieder unter den Stein zurück, unter dem Du rausgekommen bist!
Und dann hast du auch noch die Frechheit, dich zwischendurch immer wieder mal zurückzuhalten. Du gaukelst mir vor, dass doch „alles nicht so wild“ ist. Du wiegst mich in Sicherheit, wo keine ist. Und wenn ich denke, dass es mir gerade mal gut geht, dann kommst du mit geballter Wucht zurück. Zeigst mir, wer du bist. Du zeigst mir deine hässliche Fratze. Wie war das? „Nach dem Schub ist vor dem Schub“. Hast du nicht die Nase voll davon, mich permanent in Unsicherheit zu wiegen?
Deinetwegen muss ich einen Arsch voll Medikamente nehmen. Und das sind nicht nur die, die die Erkrankung MS im Fortschreiten hindern bzw. den Progressionsverlauf verlangsamen sollen. Heilung? Die gibt es nicht. Noch nicht. Vielleicht geht es dir aber irgendwann mal ordentlich an den Kragen.
Einen Haufen Kortison habe ich in meinem Körper gehabt. Hast du schon mal was davon gehört, dass das die Knochen schädigt? Dass sich die Haut verändert? Die Haare ausfallen? Aber nein! Das ist dir alles sowas von egal! Du hattest für mich sogar gleich auch noch Begleiterkrankungen im Gepäck. Das Restless Legs Syndrom, was mich wirklich quält, die Schlaflosigkeit, die Unruhe, die mir immer wieder zu schaffen macht; du hast mir meine Konzentration auf längere Dauer weggenommen, die Feinmotorik meiner Hände bzw. meiner Finger; und das besonders ausgerechnet rechts. Aber nein, damit nicht genug! Im Sommer quälst du mich mit dem Uhthoff-Syndrom, sodass fast gar nichts mehr geht. Und ach… Wie konnte ich es vergessen in meiner Aufzählung? Diese Fatigue, das chronische Erschöpfungssyndrom: vom Allerfeinsten! Das ist echt mies von dir! Aber Moment! Immerhin hast du mir ja auch noch etwas gegeben: die (inkomplette) Halbseitenlähmung und die Gesichtslähmung auf der rechten Seite. Ganz großes Kino! Tosender Applaus!
Und trotzdem kann ich dir irgendwie nicht böse sein. Denn du hast , und jetzt heb nicht gleich ab, eine Menge Gutes in mein Leben gebracht. Und dieses Gute überwiegt all das, dem ich hinterher trauere. Tja, das hättest du jetzt nicht gedacht, oder?
Du hast mich gelehrt umzudenken; du hast mich gelehrt, meine Prioritäten zu überdenken und neu zu sortieren. Durch dich habe ich erkannt, welche Menschen mir gut tun, und welche nicht. Welches Leben mir gut tut, und welches nicht. Du hast mir das Werkzeug gegeben, meine inneren Ketten zu sprengen und mich komplett neu aufzustellen. Ich habe das Gefühl, dass ich erst durch dich weiß, wie wertvoll das Leben und (gewisse) Menschen für mich sind. Ich mache jetzt Dinge, die mir Spaß machen: wann ich es will und wie oft ich es will. Und das Schönste daran? Ich habe nicht eine Sekunde ein schlechtes Gewissen dabei.
Ich lebe jetzt das Leben, das ich leben will. Nicht das, was man mir vorgibt, weil es gewissen Erwartungen und/oder gesellschaftlichen Normen entspricht.
Und weißt du, was das Beste ist? Mein Jens, liebt mich so, wie ich bin. Sogar mit dir im Gepäck.
Also, wenn es dein Ziel war, mir mein Leben zu versauen: Vergiss es! Die Macht hast du nicht. Hattest du nie. Ich habe es nur nicht gleich erkannt.
Du erwartest jetzt an dieser Stelle ein „Danke“ von mir? Ich weiß nicht. Vielleicht hättest du es sogar verdient. Allerdings kann ich das nicht zugeben. Du bist und bleibst (manchmal) echt ´ne blöde Kuh. Schleich dich…
Wie hat die Diagnose dein Leben verändert? Kannst du ihr etwas Positives abgewinnen?
Danke, dass du dir die Zeit genommen hast, diesen Beitrag zu lesen! Ich hoffe, dass meine Erfahrungen dir ein Stück Klarheit oder Ermutigung schenken konnten. Als ich die Diagnose MS bekam, fühlte ich mich oft allein und überfordert. Genau deshalb habe ich ein Buch geschrieben, das ich selbst damals so dringend gebraucht hätte. „Spring, damit du fliegen kannst.: Ein Selbsthilfe-Ratgeber für MS-Erkrankte und ihre Angehörigen.“ Es ist bei Minerva-Vision erschienen. Wenn du Interesse hast, schau es dir gerne an – vielleicht ist es genau das, was auch dir weiterhelfen kann. Oder hör dir meinen Podcast „MS-Voices“ an. Bis zum nächsten Mal!
Du hast auch MS und möchtest mit mir in meinem Podcast darüber sprechen? Dann schreib mir eine Mail an: kontakt@ms-voices.de