Fels in der Brandung oder Blatt im Wind?

Warum die Menschen in deiner Umgebung wichtig sind. Sortiere die Leugner, Besserwisser oder die ‘Stell dich nicht so an’ aus. Umgib dich mit den Felsen, denn die geben dir Halt und Stabilität. Irene Sybertz erzählt in ihrem Buch “Spring, damit du fliegen kannst” ihre persönliche Geschichte mit Multiple Sklerose.

Bei jedem Krieg gibt es Ruhe zwischen den Stürmen. Es kommen Tage, an denen wir den Glauben verlieren. Tage, an denen sich unsere Verbündeten gegen uns stellen. Aber es wird niemals der Tag kommen, an dem wir dich im Stich lassen! – (Transformers III – Dark of the Moon)

Und genauso kam es. Nachdem ich meine Diagnose erhielt, hätte ich am liebsten meinem Paps als Allererstes davon erzählt. Er war immer der Fels in meiner Brandung, aber er hatte mich elf Jahre zuvor einfach verlassen. Weg. Für immer. Im Himmel. Er war kein Mensch, der körperliche Nähe geben konnte; aber er hätte mich an seine Seite gezogen, mir auf die Schulter geklopft und gesagt „Kind, mach dir keine Sorgen. Wir kriegen das hin. Ich bin hier, wenn du mich brauchst.“ Fertig. Thema erledigt. Und genau das hätte ich gebraucht. Kein Mitleid, keine Theatralik. Einfach nur zu wissen, dass er, wie immer, für mich da gewesen wäre, wäre genug gewesen.

So war nun Horst der Erste, dem ich nach meiner ersten Kortison-Infusion von meiner ganz frischen Diagnose berichtete. Sein Kommentar: „Ach du Scheiße“. Ja, das traf es in etwa. Dann rief ich in der Firma an, um dort Bescheid zu sagen, dass ich vorerst ausfallen würde. Dauer noch unbestimmt. Meine Kollegin Rose fragte sofort, was los sei.

Ich erzählte ihr, was ich keine zwei Stunden vorher erfahren hatte und sie sagte: „Ich drücke dich von hier aus. Wenn du reden möchtest, bin ich für dich da. Ich sage dem Chef Bescheid.“ Am gleichen Nachmittag rief er mich im Krankenhaus an und sagte: „Wenn ich Sie jetzt frage, wie es Ihnen geht, dann ist das ziemlich dämlich, oder? Sie brauchen auch nicht zu antworten.“ Und weiter: „Machen Sie jetzt erst mal Ihre Therapie im Krankenhaus und alles andere, was danach kommt, und dann sehen wir weiter. Aber machen Sie sich keine Sorgen um Ihren Job.“ Er war immer geradlinig und fair. Und wenn er etwas sagte, dann war das auch so. Entweder „ja“ oder „nein“ – etwas dazwischen gab es für ihn nicht, und dafür schätze ich ihn heute noch.

Okay, die bis dahin wichtigsten Personen waren informiert. Aber ich ahnte noch nicht, welche Reaktionen es von Freunden, Bekannten und Kolleginnen bzw. Kollegen geben würde.

Die Leugner

Für mich war diese Kategorie besonders schlimm. Zumindest am Anfang meines Weges mit den zwei Buchstaben. Das Problem bei dieser Krankheit ist, dass ein anderer sie nicht sieht. Niemand sah mir an, ob sich ein Schleier über meine Augen zog, und ich nur noch, wie durch einen Nebel sehen konnte. Ob mein Sehfeld eingeschränkt war oder ich Doppelbilder vor Augen hatte, so dass mir starke Lichtreflexe in meinen Augen regelrecht wehtaten. Niemand sah mir an, dass ich mir öfter ins Höschen pinkelte, als mir lieb war, weil mein Blasenmuskel nicht mehr richtig funktionierte. Niemand sah mir meine Fatigue an – meine Erschöpfung.
Es gibt viele Symptome, die nun mal unsichtbar für andere sind. Ich denke immer, manchmal wäre es einfacher, ein Bein ab zu haben, denn dann sieht man die Beeinträchtigung. Und das ist nur das nette Wort für die Behinderungen, die die MS mit sich bringt.

Und all das sorgte für Unverständnis in meinem Umkreis. Ich stand vor ihnen und sah, nach außen hin, aus wie das blühende Leben. Nun erzählte ich ihnen, dass ich unheilbar krank sei. Das verstanden sie nicht. Denn es kann nicht sein, was nicht sein darf! Die Diagnose wurde zwar vernommen, aber sie passte nun mal nicht zu mir. Die MS – das unbekannte Schreckgespenst.

„Nein, das kann nicht sein!“, „Aber du sitzt doch gar nicht im Rollstuhl, das muss was anderes sein!“, „Die Ärzte haben doch manchmal selbst keine Ahnung!“, „Such dir einen neuen Arzt!“, „Lass das nochmal abklären, denn es ist bestimmt die Erkältung, die du neulich verschleppt hast. Ich habe da erst vor Kurzem noch etwas drüber gelesen“, „Das ist doch Quatsch, du brauchst einfach nur mal einen Urlaub, du hattest in den letzten Jahren viel zu viel um die Ohren!“, „Das ist die Psyche!“. Und das ist nur ein kleiner Auszug von dem, was ich mir alles anhören musste in der Phase, in der ich vor Unsicherheit und Ängsten zerfressen war.
Heute weiß ich, dass diese Äußerungen nur Ausdruck der Hilflosigkeit waren und die Angst vor meiner Veränderung.

Mein Rat: Leugner wissen nicht, dass sie unnötig Hoffnungen schüren, denn niemand will die MS-Diagnose doch selbst wahrhaben! Auch wenn der Verstand, und all die Informationen, die ich in der Zwischenzeit erhalten hatte, mir sagten, dass es nun mal so ist, wie es ist, und ich es akzeptieren musste, mit dieser Krankheit zu leben. Deshalb ist es besser, Leugnern nicht länger zuzuhören.

“Stellen Sie sich nicht so an”

Ja, auch diese Kategorie gibt es. In dem Fall mein ehemaliger Personalchef. Er sprach mich eines Tages in unserer Kantine an und fragte mich, wie es mir gehe. Es ging mir zu dem Zeitpunkt nicht gut, da ich einen erneuten Schub hinter mir hatte, der mir noch in Mark und Bein steckte. Im wahrsten Sinne des Wortes. Ich antwortete also wahrheitsgemäß und erhielt die Antwort: „Stellen Sie sich nicht so an. Unsere Ministerpräsidentin (Rheinland-Pfalz) leidet auch an MS und die hat keine 35-Stunden-Woche wie Sie. Sehen Sie sich an, was die alles leistet.“ Sprach´s, ließ mich stehen und weg war er.

Mein Rat: Ich hätte ihm gerne gesagt, dass man das nicht vergleichen kann, denn sie spielt definitiv in einer ganz anderen Liga. Sie hat mit Sicherheit ihre Leute, die ihr viel vom Alltag nehmen und auch garantiert die finanziellen Mittel. Sie braucht sich mit Sicherheit keine Gedanken um ihre finanzielle Existenz machen und um kostenintensive Therapien, die nicht von der Krankenkasse übernommen werden. Deshalb sollte man sich durch Vergleiche niemals unter Druck setzen lassen.

“Du siehst aber gut aus!”

So eine Kollegin, die mich auf dem Flur auf meinem Weg in mein Büro traf. Ich bedankte mich artig und freute mich. Sind wir ehrlich: Komplimente hören wir alle gerne – egal von wem. Allerdings schob sie unmittelbar den Satz hinterher: Das sieht man dir gar nicht an.“
„Was sieht man mir nicht an?“
„Na, dass du diese Krankheit hast.“
„Was stellst du dir denn vor? Wie soll ich denn aussehen? Wie Quasimodo?“
„Nein, so ist das doch gar nicht gemeint. Ich finde es nur großartig, wie du mit der Krankheit umgehst. Du bist so stark.“

Und ich war so unglaublich neidisch, dass sie gesund war. Meine sogenannte Stärke war und ist nur ein äußeres Erscheinungsbild. Im Grunde habe ich auch heute noch Ängste; dieses Mal nur anders gelagert. Ich bin schon auf Hilfe angewiesen; sei es Hilfe und Unterstützung von der Liebe meines Lebens, die ich an dieser Stelle Jens nenne, vom Pflegedienst vom Rest der Familie oder von Freunden und Bekannten. Ich verliere immer mehr von meiner Unabhängigkeit und habe Angst davor, irgendwann ganz pflegebedürftig zu sein. Die MS kann ein Arschloch sein.

Mein Rat: Nimm das Kompliment an und denk dir deinen Teil. Immerhin siehst du gut aus, das ist doch auch schon was.

„Die Freundin einer Bekannten einer Arbeitskollegin…“

Das sind die Schlimmsten. Oder vielleicht auch nicht. Da kommt noch was auf dich zu. Aber: „Die Freundin einer Bekannten einer Arbeitskollegin…“ kommt schon nah dran. „Die hat das auch. Aber die hat dieses oder jenes Medikament bekommen, der geht es jetzt gut, die ist jetzt gesund.“

Mein Rat: Reiner Zufall und Glück gehabt. Es gibt definitiv keine Heilung, durch welches Medikament auch immer. Wir werden nicht gesund! Das musst du in deinen Kopf bekommen. Du musst es dir nicht tagtäglich in Erinnerung rufen, denn dann wirst du deprimiert. Aber du musst es als gegebenen Fakt wissen. Kaputte Nervenbahnen sind und bleiben kaputt. Man kann sie nicht reparieren, indem man Isolierband drüber klebt und gut ist. Nein, so funktioniert das nicht. In gewissen Stadien übernehmen benachbarte Nervenzellen die Funktion, die notwendig ist. Aber das nicht immer und die Frage ist: Funktioniert wirklich wieder alles wie vor der Schädigung oder ist da nicht doch ein gewisser Verlust? So wird es nämlich sein.

Denn diese „aushelfenden“ Nervenzellen müssen ja nicht nur ihren eigenen Job übernehmen, sondern auch einen zusätzlichen Job. Und warum soll es denen anders gehen als uns, wenn wir uns verausgaben? Dann sind wir auch irgendwann K.O. und brauchen für gewisse Dinge länger als sonst. Dann werden die fünf Kilometer nicht mehr in 60 Minuten gelaufen, sondern in 120 Minuten.

Besserwisser oder „Ich meine es doch nur gut“

Mindestens gleichzusetzen mit „Die Freundin einer Bekannten einer Arbeitskollegin…“. Du wirst mitleidig angesehen und man sagt dir, was du machen musst, um gesund zu werden. Das fängt an bei „Du musst nur Weihrauch nehmen“, geht weiter über „Du darfst dich nicht hängen lassen, geh raus, spazieren“, „Du musst über den Bauch einatmen“, „Ich habe gelesen, dass „x“ helfen kann“, hin zu „Ich vergesse auch viel, das ist doch nichts Besonderes“. All diesen Menschen ist eines gemeinsam: Sie meinen es wirklich nur gut mit dir. Sie wissen nicht, wie sie mit dir und deinen oft für sie nicht sichtbaren Einschränkungen umgehen sollen.

Mein Rat: Sei nett, lächle, sage, dass du es ausprobieren wirst, und bedanke dich für den guten Rat. Dann hast du deine Ruhe. Es bringt nichts, mit diesen Menschen zu diskutieren. Sie stecken nicht in deiner Haut. Wenn dir dein 85-jähriger Schwiegervater sagt, dass er auch viel vergisst, Ginseng ganz großartig ist, dann meint er es wirklich nur gut und will dir damit sagen, dass du nicht allein bist. Aber wenn du erst 45 Jahre alt bist, du jetzt schon durch die MS kognitive Probleme und Einschränkungen hast, dann wirst du dich fragen, wie das erst bei dir aussehen wird, wenn du 85 Jahre alt bist. Tu das, was dir guttut und verhalte dich, wie es dir guttut. Damit fährst du auf Dauer am besten.

Es gibt schlimmere Krankheiten

Ja, die gibt es. Aber das ist genauso, als würdest du zu deinem Paps gehen, ihn im Alter von 15 Jahren darum bitten, dir ein Mofa zum Geburtstag zu schenken, weil deine Freundin Gabi auch eins hat. Er wird dir sagen: „Es ist mir egal, was andere Leute haben, du bekommst keins.“ Zack. Fertig. Aus die Maus. Thema erledigt.
Du hast diese Krankheit, die dein Leben auf den Kopf stellt. Du musst unter Umständen Lebensträume begraben, die du hattest und damit leben, auf die Hilfe anderer angewiesen zu sein. Und du hast definitiv das Recht, über die Veränderung in deinem Leben zu jammern. Klar, geht es den Kindern in Äthiopien nicht gut, weil sie hungern müssen. Klar, müssen die Menschen in Kriegsgebieten Angst um ihr Leben haben. Aber du lebst im Hier und Jetzt. Du bist du und du bist einzigartig und du hattest einen Plan für dein Leben.

Mein Rat: Meine Psychotherapeutin half mir, die Krankheit anzunehmen und zu verarbeiten. Ihr sagte ich auch immer, dass ich froh sei, „nur“ MS zu haben, schließlich gäbe es schlimmere Krankheiten. Und ich dachte, ich fühlte mich besser damit. Sie lächelte dann immer vor sich hin und hielt mir vor Augen, dass ich vergleiche, um mich besser zu fühlen. Aber es sei wichtig, sich selbst wahrzunehmen und es sei wichtig, auch über das Verlorene jammern zu dürfen. Ich habe einen Plan im Leben gehabt, Träume und Ziele. Und einen Teil davon könne ich nun von jetzt auf gleich nicht mehr verwirklichen. Ohne selbst schuld daran zu sein.

Sie sagte immer: „Das Vergleichen ist das Ende des Glücks und der Anfang der Unzufriedenheit.“ (Soren Aabye Kieerkegaard, 1813 – 1855, dänischer Philosoph, Essayist, Theologe und Schriftsteller). Sie brachte mir bei, dass es eigentlich nur einen einzigen Menschen auf der Welt gibt, dem es am schlechtesten geht. Denn, spiel es mal gedanklich durch, es wird immer jemanden geben, der schöner ist als du, reicher ist als du, mehr in der Welt herumkommt als du, mehr Geld auf dem Konto hat als du, einen besseren Job hat, scheinbar glücklicher ist als du, oder, oder, oder. Irgendjemandem wird es immer besser gehen als dir. Und somit gibt es auch diejenigen, denen es schlechter geht als dir. Aber wer bestimmt denn, was besser oder schlechter ist? Wenn du bei denen, denen es scheinbar besser geht als dir, hinter die Mauern siehst, erkennst du vielleicht, dass der erfolgreiche Manager seine Frau verprügelt, Kinder aus reichem Hause einsam sind und du wirst dich fragen, ob du dich immer noch mit dieser Person vergleichen möchtest.

Also, wenn du, genau wie ich, mal wieder in die „Es gibt Schlimmeres“-Falle getappt bist, dann nimm das einfach zur Kenntnis und besinne dich auf dich selbst. Du bist einzigartig und etwas ganz Besonderes. Anders als alle anderen und so soll es ja auch sein. Etwas Einzigartiges kann man nicht vergleichen. Streiche also den Gedanken „Mir geht es besser als allen anderen“ oder „Mir geht es schlechter als allen anderen“ aus deinen Gedanken. Wenn dir nach Weinen zumute ist, dann tu das, wenn dir nach Lachen zumute ist, dann tu das. Wenn dir danach ist, Teller zu zerdeppern, dann tu das. Umgib dich mit Menschen und Dingen, die dir guttun.

Die Felsen

Es gibt noch viele andere Kategorien, wie die neugierigen und sensationslustigen Nachbarn, die wissen wollen, wie denn „so eine mit MS“ aussieht; die Zweifler, die dir sagen, dass du keine MS hast, sondern irgendetwas anderes, von dem sie mal gelesen haben aber auch, und das ist das Gute daran, diejenigen, die dir bedingungslos, ohne zu fragen und mit unendlich viel Liebe im Herzen für dich, zur Seite stehen. Wie mein Jens. Er behandelt mich wie einen normalen, gesunden Menschen. Er beobachtet mich im Stillen und sieht, wann ich Hilfe brauche. Und selbst dann fragt er mich erst, ob ich Hilfe möchte. Oder er kommt zu mir, sieht mich an und sagt: „Was hältst du davon, wenn wir das oder so machen?“ und zeigt es mir.

Dann kann ich selbst entscheiden, ob ich seine Hilfe annehme oder nicht, denn ich möchte mir meine Fähigkeiten erhalten. So lange wie möglich. Das geht aber eben nicht, wenn mir alles abgenommen wird. Seine Liebe zu mir, seine Blicke, seine Worte, die vielen Kleinigkeiten im Alltag, die er unternimmt, um mir ein schönes Leben zu bieten, geben mir unglaublich viel Kraft. Und deswegen möchte ich verdammt lange fit und selbständig bleiben, um ihm etwas davon zurückgeben zu können.

Jens gehört zu der allerbesten Kategorie meiner Ranking-Liste. Er gehört zu den „Ich lasse dich niemals im Stich“.

Buchtipp: Spring, damit du fliegen willst. Von Irene Sybertz. www.minervastore.de

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